Armenien verliert: Wird Bergkarabach nun ethnisch gesäubert?

Es kommt nicht aller Tage vor das sich Mitglieder des Europarates in einem blutigen Krieg gegenseitig bekämpfen und ein „europäisches“ Land ihr erobertes Gebiet dann vom ebenfalls „europäischen“ Gegner ethnisch säubern lasst ! Willkommen zur neuen Realität des Jahres 2020, wo zehntausende armenische Christen vor muslimischen Soldaten im Südkaukasus fliehen müssen! Erinnerungen an die Balkankriege werden wach: Die Türkei entsendet Soldaten und islamistische Milizen aus dem arabischen Raum. Gegen diesen türkisch-aserbaischanischen-islamistischen Aufmarsch durfte dann das 3-Millionen Land Armenien sechs Wochen alleine ankämpfen. Mit etwas medizinischer Hilfe von Frankreich, Russland und einer Handvoll von (va. armenischstämmigen) internationalen Freiwilligen.

Nach Syrien, Afghanistan, Libyen und dem Irak ist der Westen nun dabei einen weiteren Krieg an den Grenzen Europas zu verlieren. Und keiner schaut ausreichend hin oder hilft den christlichen Armeniern im Südkaukasus, die einer Vertreibung aus ihren jahrtausendealten Siedlungsgebieten am Bergkarabach entgegen blicken müssen. Die Autokraten Erdogan und Aliyev triumphieren militärisch und Russlands Putin spielt dann ungestört seine geopolitischen Spielchen mit der armenischen Restmasse.

Die Ausgangslage

Im 20. Jahrhundert kam es zu einem Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich, sowie zu mehreren blutigen Säuberungen der christlichen Armenier in der Region. Viele der armenischen Siedlungsgebiete wurden dabei ausradiert und die kleine Republik Armenien ist eher der kümerliche Rest eines Siedlungsgebietes, das einst vom Kaspischen Meer bis zum Mittelmeer reichte. Dabei war auch Armeniens Nachbar Aserbaidschan beteiligt. Sei das nun ein Pogrom im stark armenisch besiedelten Baku 1918, ein Massaker im mehrheitlich armenisch besiedelten Bergkarabach 1920 oder die Vertreibung von hunderttausenden Armeniern aus Aserbaidschan seit dem Fall der Sowjetunion. Die Armenier hatten immer das Nachsehen und denkbar schlechte Karten.

Mit dem nahen Ende der Sowjetunion häuften sich Massaker und Übergriffe auf die armenische Minderheit in Aserbaidschan: Pogrom in Sumgait (1988), Pogrom in Kirowabad (1988), Pogrom in Baku (1990), Massaker von Chodschali (1992), Massaker von Maraga (1992),

Krieg um Bergkarabach 1992-1994

Im Jahr 1992 brach dann ein Krieg um Bergkarabach aus, in dem in den folgenden zwei Jahren etwa 30.000 Menschen getötet und hunderttausende Menschen vertrieben wurden. Stalin, selbst Kaukasier, hatte das armenisch-christliche Bergkarabach nämlich dem muslimischen Aserbaidschan zugesprochen, ganz nach dem imperialen Prinzip „divide et impera„. Einerseits und andererseits um türkischen Forderungen entgegen zu kommen. In der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik wurde der autonome Oblast Bergkarabach geschaffen, der aber durch einen Gebietsstreifen von Armenien getrennt wurde. Dieser autonome Status wurde dann am 26. November 1991 von der neuen aserbaidschanischen Nationalversammlung aufgehoben, der Verwaltungsbezirk abgeschafft. Die nationale aserbaidschanische Intention wurde also 1991 klar !

Den Krieg zwischen 1992 und 94 gewannen dann allerdings unerwartet die Armenier! Augenzeugen berichteten damals, dass die Armenier sich mit dem Mut der Verzweiflung an „ihre Berge“ klamerten und um ihre Häuser kämpften, während die aserbaidschanische Jugend weniger Motivation zeigte für das abgelegene gebirgige und dünn besiedelte Gebiet ihr Leben zu geben. Der Waffenstillstand von 1994 sah einen Status-quo vor, der mehr oder weniger unverändert bis 2020 anhielt. Rund 235.000 ethnische Armenians flohen aus Aserbaidschan und 250.000 ethnische Azeris mussten umgekehrt Armenien verlassen. Die Kämpfe um Bergkarabach vertrieben dann angeblich noch bis zu einer halben Million Azeris aus der umkämpften Region.

Der Status-quo 1994-2020

Die folgende Karte zeigt Armenien und in dunkelgelber Schattierung die damals eroberten Gebiete. Das alte sowjetische Autonomiegebiet Bergkarabach ist dabei ganz dunkel unterlegt und erstreckt sich nicht über die ganze Bergregion mit dem gleichen Namen (die weitgehend der gelben Fläche entspricht).

Die Lage in Bergkarabach vor dem Krieg; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Artsakh_de.svg

Wie die folgende Karte zeigt, war vor allem die gebirgige Topographie neben der hohen armenischen Kampfbereitschaft überhaupt der Grund, warum Armenien, beziehungsweise die Republik Bergkarabach, so lange gegen das mächtigere Aserbaischan und seine türkischen Alliierten bestehen konnte.

Im unteren zentralen Bereich des Bildes sieht man die gebirgige Topographie Bergkarabachs im Gegensatz zur eher flachen Küstenebene des Gegners Aserbaidschan

Der Krieg 2020

Die Eskalation begann mit kleineren Zusammenstößen von Truppen beider Seiten im Juli. Dass es 2020 nicht – wie in so vielen Jahren zuvor – bei Scharmützeln mit 20-30 Toten blieb, hat mannigfaltige Gründe! Der Einfluss von Hardlinern in Aserbaidschan wächst, wie dessen militärisches Arsenal. Armenien hält dagegen an dem Gebiet fest, die Verhandlungen über eine teilweise Rückgabe stagnieren. Dazu kommt noch ausländische Ermunterung aus der Türkei für den Kriegskurs Aserbaidschans. Russland redete dagegen mit beiden Seiten und versuchte erfolglos zu deeskalieren. Putins Verhältnis zu Armeniens Premier Nikol Paschinjan ist allerdings ziemlich distanziert, denn dem Kreml missfällt, dass Paschinjan mit einer prodemokratischen Revolution 2018 an die Macht kam.

An der Waffenstillstandslinie eskalierten die Kämpfe am 27. September 2020 zu einer großräumigen bewaffneten Auseinandersetzung und einer aserbaischanischen Offensive, die weit in das Gebiet von Arzach vorstieß. Armenien und die Bergkarabach-Republik Arzach verkündeten die Generalmobilmachung. Aserbaidschan beschuldigte dann ganz doppeldeutig Armenien die Lage zu eskalieren. Was angesichts der guten Vorbereitung Aserbaidschans natürlich nur Theaterdonner ist. Dem gut geplanten aserbaidschanischen Vorstoß gelang es dann im Süden relativ rasch voranzurücken. Dieser ist weniger gebirgig als der Rest Bergkarabachs und es wohnen dort überhaupt nur wenige Menschen. An der ganzen Front kam es dann häufig zu gegenseitigem Artillerie-Beschuss von Stellungen, grenznahen Dörfern und naher Städte auf beiden Seiten.

Die überlegene aserbaidschanische Militärtechnik beherrschte bald die Lüfte. Die Türkei soll sogar einen armenischen Jet auf armenischem Staatsgebiet abgeschossen haben. Gut trainierte aserbaidschanische Spezial- und Sabotageeinheiten operierten währenddessen im armenischen Hinterland und sorgten für Chaos.

Blick zurück: Die militärische Situation Stand 21.10.2020

Wie die folgende Karte zeigt war die militärische Situation im Süden für Armenien schon Ende Oktober äußerst kritisch: Aserbaidschanische Truppen und ihre türkischen/syrischen Verbündeten konnten schon damals beinahe die ganze Grenze der Enklave Bergkarabach zum Iran aufrollen. Ebenso verlor Armenien ein Gebiet im Norden an aserbaidschanische Truppen (hier in blau).

Der Kriegsverlauf im Südkaukasus (Stand 21.10.2020) im Rückblick: aserbaidschanische Eroberungen (blau) von armenischen Territorien (rot), Quelle: https://caucasus.liveuamap.com/

Armenien ist militärisch und bevölkerungsmäßig (3 vs. 10 Mio. EW) massiv unterlegen. Weshalb derart große militärische Verluste ohne ausländische Hilfe nicht gegen das dreimal größere und militärisch viel potentere Aserbaidschan zurückzugewinnen waren. Jede Verlängerung der Frontlinie hilft dabei naturgemäß jener Partei mit mehr Ressourcen. Dies ist hier unzweifelhaft Aserbaidschan mit seinen Verbündeten. Als Speerspitze setzen die Autokraten Erdogan und Aliyev zudem auf ein paar tausend Syrer, die als Kanonenfutter für die aserbaidschanische Armee missbraucht werden.

Der Waffenstillstand

Mithilfe moderner israelischer, russischer und türkischer Waffen, insbesondere Drohnen, gelang den Aserbaidschanern der Durchbruch. Auch dank dem Einsatz von um die 3000 syrischen Söldnern der Türken. Der islamischen Koalition gelang es in den vergangenen Wochen dann rund 40 Prozent des Gebietes von Bergkarabach einzunehmen, wie folgende Karte zeigt. Mit dem Fall Schuschis (hier im Zentrum symbolisiert durch einen blauen LKW), fiel die wichtigste Versorgungsroute aus Armenien. Ohne diesen „Lachin-Korridor“ (hier dick rot eingezeichnet) wären die armenischen Streikräfte eventuell vom Nachschub abgeschnitten worden, woraufhin die armenische Regierung kapitulieren musste. Von Schuschi aus lässt sich zudem die bergkarachische Hauptstadt Stepanakert direkt unter Beschuss nehmen.

Frontsituation Bergkarabach Stand 14.11.2020; Quelle: https://caucasus.liveuamap.com/

Der Friedensvertrag

Der unter der Leitung von Russlands Präsident Putin verhandelte Friedensvertrag sieht die Anerkennung des Status-quo, den Abzug aller armenischen Truppen, sowie die Rückgabe aller noch armenisch besetzten Gebiete außerhalb der Enklave Bergkarabach vor. Dort behält Aserbaidschan was es bereits erobert hat, womit nur ein Teil der Enklave bleibt, der von russischen Friedenstruppen gesichert werden soll. Auf der Karte sieht dies so aus:

Armenische Gebietsverluste im Friedensvertrag; Quelle: https://www.zeit.de/2020/47/bergkarabach-aserbaidschan-armenien-krieg-suedkaukasus

Bergkarabach wird mit dem Friedensvertrag nun wieder zur Enklave, die nur noch über den aserbaidschanischen Lachin-Korridor mit Armenien verbunden ist. Dieser soll wiederum von russischen Soldaten gesichert werden. Wie auch ein Korridor quer durch Armenien in die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan. Vieles ist aber ungeklärt ! Nichts ist über die Zukunft der Armenier vereinbart. Oder was in fünf Jahren passiert. Im schlimmsten Falle wird das, was nicht in der Erklärung steht, irgendwann einmal zu einer humanitären Katastrophe führen. Wer von den Flüchtlingen darf außerdem zurück in die nun aserbaidschanischen Gebiete Bergkarabachs? Oder bleiben diese ethnisch gesäubert. Wie wird künftig der Status von Bergkarabach aussehen? Der aserbaidschanische Präsident lachte Armeniens Präsidenten Paschinjan auf jeden Fall im Fernsehen aus. Und lässt wenig Zweifel daran, dass die demographische Übermacht Aserbaidschans die eroberten Gebiete schnell an neue Herren verteilen wird.

Da bleibt den vertriebenen und emigrierenden Armeniern nur mehr die traurige Aufgabe ihre Staatlichkeit und Zeugnisse ihrer Existenz abzubauen und vor der Zerstörung der neuen Herren zu bewahren, wie folgendes Bild zeigt:

Evakuierung eines armenischen Monuments vom Dorf Kalbajar am 13.November 2020; Quelle: https://caucasus.liveuamap.com/en/2020/13-november-armenians-evacuate-the-monument-from-baglipeyanor

Was wäre gewesen wenn?

Schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz wurden die Animositäten zwischen den beiden Staatschefs von Armenien und Aserbaidschan Anfang 2020 auf offener Bühne ausgetragen. Der Westen versuchte jahrelang Friedenstruppen in der Region zu stationieren (wie auch Russland), scheiterte aber mit Nachdruck an den lokalen Kräften. Dabei hatte man genug ökonomische Hebel gegen Aserbaidschans ölreiche Autokratie und auch Armenien ist auch nicht gerade ein wirtschaftliches Schwergewicht.

Die mehr als 5000 Toten dieses Krieges waren völlig unnötig! Schon alleine weil eine rasche Einfrierung des Konfliktes nach aserbaidschanischen Vorstößen ein ähnliches faireres Ergebnis gebracht hätte. Armenien hätte als Kompensation für vergangene Vertreibungen wohl irgendwann einen sicheren Korridor nach Bergkarabach erhalten. Und den Großteil des einst aserbaidschanischen Territoriums um Bergkarabach wieder abtreten müssen. Man hätte also Land für Frieden ausgetauscht.

Fazit

Lektion 1

Die Situation in Bergkarabach zeigt was passiert wenn eine regionale Ordnungsmacht (die USA, die NATO oder EU) fehlt und eine andere (Russland) schwach und zögerlich agiert. Tausende Tote sind der Preis für ein Szenario, bei welchem es viele Verlierer und wenige Gewinner gibt. Aserbaidschan darf sich als Sieger mit neuem alten Territorium fühlen, hat künftig aber russische und wohl auch türkische Truppen unbegrenzt auf seinem Staatsgebiet stationiert. Die Frage des Rests von Bergkarabach, der nun russisch kontrolliert wird, ist aber immer noch nicht geklärt. Aserbaidschan behält den erobterten Teil, das Schicksal der übrigen rein armenisch besiedelten Gebiete ist offen. Und soll in 5 oder 10 Jahren geklärt werden. Russland hat also erneut einen Konflikt eingefroren und sich militärisch vor Ort weiter etabliert. Die Türkei allerdings auch!

Der ganze Krieg ist dabei eher ein tiefer Ausdruck der Schwäche Moskaus in der Region. Die alte kaukasische Ordnungsmacht Russland war nicht in der Lage ihrem engsten Verbündeten Armenien ohne fatale Niederlage aus diesem Krieg herauszuholen. Die Türkei hat dafür „ihren“ Stellvertreterkrieg im Kaukasus gewonnen – wenn schon nicht ganz den Frieden. Auch da Moskau vielleicht mit der Stationierung russischer Soldaten am Ende noch das Beste aus der Niederlage für sich herausgeholt hat. Ein Zeichen der russischen Stärke wäre aber wohl ein nachhaltiger Frieden mit einer Anerkennung der armenischen Siedlungsgebiete in Bergkarabach und deren Einigung mit Armenien gewesen. In Verbindung mit der Rückgabe einiger anderer Gebiete an Aserbaidschan mit Ausnahme von Gebietsarrondierungen etwa im Lachin-Korridor. Ohne diesen Korridor ist Bergkarabach nämlich nicht lebensfähig!

Lektion 2

Armenien hat sehr viel wichtiges Land verloren. Die territoriale Kompensation der Vertreibungen aus den 1990ern ist weg, wie auch ein Teil des historischen Siedlungsgebietes. Teile seiner Bergkarabach- Bevölkerung sind wohl für immer aus ihren angestammten Wohnorten vertrieben worden. Eine Rückkehr in Gebiete mit baldiger neuer aserbaidschanischer Mehrheit sind wohl zu gefährlich. Und keine Garantie für eine gute Zukunft. Dazu kommen weitere vertriebene autochthone armenischen Bewohner aus den Gebieten unter armenischer Verwaltung, die nun an Aserbaidschan zurückgegeben werden müssen. Nicht alle Armenier dort sind erst 1994 eingewandert, denn wie überall im Kaukasus gab es dort Volksgruppen nebeneinander. Die Kriegsschäden im umkämpften Territorium sind zudem groß. Tausende Gefallene sind auf beiden Seiten zu beklagen und das Coronavirus grasierte zudem massiv. Das (öl-)reiche Aserbaidschan mag das vielleicht bewältigen können, für die armenische Enklave Bergkarabach sieht es dagegen weniger gut aus.

Wir lernen also Folgendes: Der Westen sieht zu, wie eine jahrtausendealte christliche Bevölkerungsgruppe von Türken und Aserbaidschanern vor unserer Haustüre vertrieben werden.

Quellen

https://www.spiegel.de/politik/ausland/bergkarabach-so-arrangiert-sich-wladimir-putin-mit-der-tuerkei-a-00000000-0002-0001-0000-000174003071

https://www.tagesschau.de/ausland/bergkarabach-armenien-aserbaidschan-105.html

https://www.humanrightsclub.net/en/news/2019/human-rights-situation-of-internally-displaced-persons-in-azerbaijan/

https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-soeldner-101.html

https://www.zeit.de/2020/47/bergkarabach-aserbaidschan-armenien-krieg-suedkaukasus

https://www.zeit.de/2020/42/bergkarabach-armenien-aserbaidschan-krieg-konflikt-tuerkei-russland/seite-2

https://www.bellingcat.com/news/rest-of-world/2020/10/15/an-execution-in-hadrut-karabakh/