Am 04 August 2020 zerstörte eine große Explosion den Hafen sowie viele Gebäude im Zentrum der libanesischen Hauptstadt Beirut. Fast 3000 Tonnen von unsachgemäß gelagertem Ammoniumnitrat wurden ersten Berichten zufolge durch Feuerwerkskörper in Brand gesetzt. Die explodierten in der Folge dann mit einer Intensität von etwa 1/10 der Sprengkraft der Hiroshima Atombombe. Dies führte zu rund 200 Toten und mehrere tausend Verletzte landeten in Spitälern. Der Schaden im Zentrum Beiruts geht in die Milliardenhöhe. Der libanesische Staat reagierte auf diese Entwicklungen vor allem hilflos und seine Regierung trat bald darauf zurück. Da fragen wir uns vom März natürlich: Was ist da eigentlich los in der „Zedernrepublik“?
Das Ausmaß der Zerstörungen
Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) hat dazu eine gutes Video erstellt, dass die gigantische Explosion analysiert:
Das Ausmaß der Zerstörungen wird auch im folgenden Artikel des US-amerikanischen Nachrichtensenders ABC deutlich: https://abcnews.go.com/International/search-rescue-continues-beirut-wakes-effects-devastating-explosion/story?id=72185153
Frankreichs Intervention
Soviel zu den klassischen Nachrichten. Als erstes ausländisches Staatsoberhaupt flog Frankreichs Präsident Emmanuel Macron direkt an den Ort des Geschehens. Er traf Bevölkerung wie Politiker vor Ort, tadelte die Politik, versprach Hilfen und einen weiteren Besuch im Herbst. Außerdem koordinierte Frankreich die internationale Hilfe und versprach französische Hilfe, um eine Verteilung der Hilfsgelder ohne Korruption gewährleisten zu können. Kurz gesagt trat er auf wie ein Staatschef im eigenen Lande:
Politische und historische Hintergründe
Das wirft für den normalen Nachrichtenkonsument eine interessante Frage auf:
Warum reist nach dieser Katastrophe zuerst der französische Präsident in quasi kolonialer Manier in ein souveränes Land und inspiziert Schäden, tadelt Politker und verspricht die Korruption zu bekämpfen?
Europäische Mächte, Österreich und die muslimische Christenverfolgung im Nahen Osten
Das führt uns zum „spannenden“, meist in der Berichterstattung fehlenden Teil. Der Libanon ist nämlich kein normaler „Failed State“, von denen es ja so viele im Nahen Osten gibt! Vielmehr ist der Libanon das Resultat jahrhundertelanger Christenverfolgung im Orient. Ein Staat geschaffen durch europäische Interventionen beim schwächelnden osmanischen Reich. Das Kaiserreich Österreich unter Fürst Metternich intervenierte 1842 erfolgreich in Konstantinopel gemeinsam mit anderen europäischen Mächten. Ziel war es im Gebiet des heutigen Libanons infolge blutiger Christenverfolgungen einen christlichen Verwaltungsbezirk zu errichten. Dort sollten die noch zahlreichen libanesischen Christen sich gegenseitig besser vor muslimischer Willkür schützen können. Metternichs Vorschlag wurde durch europäischen Druck dann zähneknirschend vom osmanischen Sultan akzeptiert und der Libanon in ein nördlichen christlichen und einen südlichen drusischen/muslimischen Teil geteilt. Damit wurde die einzige staatliche Entität im Nahen Osten geschaffen, wo sich eine christliche Mehrheit in einem abgegrenzten Gebiet sich teilweise selbst verwalten konnte!
Die Ruhe währte aber – wie im Nahen Osten nicht unüblich – nicht lange: schon 1860 gab es weitere Unruhen und in der Folge einen Bürgerkrieg im Libanongebirge bei dem 10.000 Christen ermordert wurden. Dies führte zu einer Intervention Frankreichs (sic!), dass nun noch entschiedener intervenierte um das christliche Leid zu stoppen. Ein internationale Kommission der europäischen Großmächte (Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland und dem Osmanischen Reich) wurde eingesetzt um die Geschehnisse zu untersuchen und Reformen einzuleiten. Infolgedessen wurde dann das Mutasarrifiat errichtet – ein einzigartiges Gebilde.
Das Mutasarrifiat (1861 bis 1918)
Ein nichtlibanesischer christlicher Mutasarrif (Gouverneur) wurde dort eingesetzt und diesem ein Verwaltungsrat aus zwölf Mitgliedern zur Seite gestellt (je zwei für jede Religionsgemeinschaft im Libanon: Maroniten, Drusen, Schiiten, Sunniten, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholische). Kurz gesagt: Ein einzigartiges innovatives (westliches) System. Die Gesamtbevölkerung 1895 wurde auf 399.530 geschätzt, von denen 319.296 (79,8 %) Christen verschiedenster Glaubensrichtungen und 80.234 (17,8 %) Muslime sowie Drusen waren. Der Erste Weltkrieg beendete dann dieses System als die nationalistische Türkei die Verwaltung in ihrem Sinne änderte. Zum Glück wagten die Türken es dennoch aber nicht die christliche Bevölkerung wie die Armenier zur gleichen Zeit auszulöschen (Völkermord an den Armeniern).
Der moderne Libanon (1918 -1975)
Nach 1918 bekam Frankreich das Mandat des Völkerbundes für Syrien und formte auf dem Syrischen „Staatsgebiet“ mehrere kleine konfessionelle Staaten für die muslimischen wie nichtmuslimischen Minderheiten: Alawiten, Drusen und Christen bekamen „ihre“ Provinz. Der Libanon gewann 1926 als Republik eine erste Selbstständigkeit und wurde 1943 endgültig unabhängig, wenn gleich immer noch eng mit Frankreich verbunden. Sowohl in der frankophonen Lebensart, in der Ausbildung, Sprache und den wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Beziehungen waren beide Länder eng verbunden. Frankreichs Verbundenheit zur östlichen Christenheit geht dabei noch viel weiter zurück: Schon nach dem ersten Kreuzzug errichteten französische Barone federführend die Kreuzfahrerstaaten in der Levante.
Unruhen zwischen Christen und ihren muslimischen Nachbarn führten in der Folge zu einer amerikanischen Intervention 1958 (die sogenannte Libanon-Krise). Palästinensische Flüchtlinge hatten den Libanon damals in Massen aufgesucht und die religiöse Balance zuungunsten der Christen verschoben, was ihre muslimischen Nachbarn sogleich nutzen wollten. Trotz dieser Vorkommnisse hielt ein 1943 geschlossener Pakt der Religionsgemeinschaften und garantierte wirtschaftlichen Stabilität und politischen Neutralität (1949–1969). Der Libanon erblühte und wurde zur „Schweiz des Nahen Ostens“. Gleichzeitig hatte sich aber ein Proporz der einzelnen Konfessionen entwickelt, der sich längerfristig als problematisch herausstellen sollte.
Die jüngere Geschichte: Bürgerkrieg, Intervention Israels, Syrienkrieg und Stagnation (1975-2020)
Dann ging es mit dem Libanon bergab: Mitte der 1970er Jahre bis 1990 herrschte ein langer Bürgerkrieg zwischen Christen und Muslimen. Die palästinensische PLO Yassir Arafats mischte sich auch noch ein, verlegte ihr Hauptquartier in das religiös gespaltene Land und zog auch noch Israels Aufmerksamkeit durch Terror auf sich. Israel besetzte 1982 nach blutigen PLO-Anschlägen dann den Süden des Landes als Pufferzone. Schon vier Jahre früher intervenierte 1978 internationale UNO-Truppen in Form der UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon). Der Truppen wurden aber großteils 1983 abgezogen nachdem die radikale Schiitenmiliz Hisbollah bei zwei Bombenanschlägen 241 US-Soldaten und 58 Franzosen getötet hatte. Der Libanon blieb also ein Schlachtfeld. Dann intervenierte Syrien, während Israel im Süden präsent blieb um seine Grenzen zu schützen. Immerhin endete der Bürgerkrieg 1990, das Land stabilisierte sich wieder etwas und Ruhe kehrte ein.
Nach der Ermordung des anti-syrischen Premierminister Rafiq al-Hariri (2005) durch mächtige pro-syrische Kräfte kam es zur Zedernrevolution, woraufhin Syrien seine Besatzungstruppen abziehen musste. Eine Demokratiebewegung getragen von Christen, Drusen und Sunniten hatte gesiegt. Aber schon kurze Zeit später attackierte die zunehmend als Staat im Staate agierende schiitische Hisbollah erratisch israelische Soldaten (Israel war 2000 aus dem Südlibanon abgezogen) und begann einen neuen Krieg mit Israel: den Libanonkrieg 2006. Der Krieg blieb ein Patt, da Israel keinen hohen Bluttzoll entrichten wollte, aber viel libanesische Infrastruktur wurde zerstört, nachdem sich die Hisbollah mit iranischer Hilfe eingegraben hatte.
In der Folge wurde das Land von Politikermorden, Straßenkämpfen, selbstherrlichen korruptem Gebahren, dem mächtigen „Staat im Staate“ Hisbollah (Iran) und zunehmend unfähigen Eliten erschüttert. Lange hatte die Wirtschaft sich noch nach Ende des Bürgerkriegs halten können bzw. zurück gekämpft, aber die Kämpfe und der Proporz der einzelnen Konfessionen lag schwer auf dem Land. Dazu kamen rund 1 Mio syrische Flüchtlinge. Seit 2019 funktioniert im Libanon dann gar nichts mehr: der Staat scheiterte, die Politik ist zersplittert und handlungsunfähig, die Währung ist kollabiert und die Wirtschaft wird zunehmend zahlungsunfähig. Zwischendurch kidnappte der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman dann auch noch den libanesischen Premier Saad Hariri. Denn auch hier stehen sich die Saudis (Sunniten) und die Iraner (Hisbollah) in einer neuen Front feindlich gegenüber.
Die Christen laufen durch demographische Schwäche (niederigere Geburtenraten, Syrische und Palästinensische Flüchtlinge) Gefahr das einzige Refugium in der Region zu verlieren, in dem sie sich nicht einer überwältigenden Mehrheit von Muslimen unterordnen müssen. Mittlerweile stellen sie nur mehr um die 40 % der libanesischen Bevölkerung, glaubt man Schätzungen. Zu all diesen desaströsen Entwicklungen kommt nun eine große Beschädigung der Hauptstadt Beiruts.
Folgende Karte zeigt die religiöse Zersplitterung des heutigen Libanons eindrücklich:
Quellen
https://www.bbc.com/news/world-middle-east-53656220
https://www.britannica.com/place/Lebanon/History
https://de.wikipedia.org/wiki/Mutesarriflik_Libanonberg
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/228362/libanon-geschichte-und-politik