Die „blutigen Grenzen“ des Islam nach Samuel Huntington

In der Welt der politischen Theorie und internationalen Beziehungen hat Samuel P. Huntington mit seiner These von „Clash of Civilizations“ (zu Deutsch: Kampf der Kulturen) im Jahr 1993 für erhebliche Aufmerksamkeit gesorgt. Huntington behauptete, dass die Hauptkonflikte in der Welt nach dem Kalten Krieg nicht mehr vorrangig ideologischer oder wirtschaftlicher Natur sein würden, sondern vor allem kulturell und religiös. Eine der prominentesten und umstrittensten Interpretationen dieser Theorie bezieht sich auf den Islam und seine vermeintlich blutigen Grenzen. Huntington im O-Ton:

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Ära der Weltkriege, die zweite die Ära des Kalten Krieges. Im 21. hat die Ära der Muslim-Kriege begonnen.

Samuel Huntington; Quelle: https://www.zeit.de/2002/37/Die_blutigen_Grenzen_des_Islam/komplettansicht

Er listet dabei im Jahr 2002 auf, welche Konflikte ihm bei den „blutigen Grenzen des Islam“ damals in den Sinn gekommen sind: Muslime gegen Hindus in Indien, Muslime gegen Christen in Nigeria, Muslime gegen Juden in Nahost. Dazu kommen Tschetschenien, Aserbaidschan, Afghanistan und Zentralasien, Kaschmir, Philippinen und der Sudan. Es sind all jene Kriege, wo Muslime gegen Nichtmuslime, wie auch untereinander kämpfen.

Wirft man einen Blick alleine in das Jahr 2023, dann sehen wir diese Bruchlinienkonflikte (O-Ton Huntington) direkt vor uns: Aserbaidschan vertreibt die christlichen Armenier nach tausenden Jahren aus Bergkarabach. Radikalisierte Muslime im Nahen Osten in diversen Terrororganisation ermorden mehr als 1000 Juden. In Afghanistan regiert seit kurzem ein islamisches Kalifat der Taliban, nach einem Krieg gegen den christlichen Westen. Der Sudan ist in einen christlichen und einen muslimischen Teil zerfallen, wobei der muslimische Sudan sich in einem Bürgerkrieg befindet. In Zentralasien wird der politische Islam nur von Diktaturen mit harter Hand niedergehalten. Im benachbarten Xinjiang hat die Volksrepublik China gleich über 1 Million muslimische Uiguren in Umerziehungslager stecken lassen, um ihnen ihre „rebellische“ Religion auszutreiben.

Die 9 Zivilisationen nach Samuel Huntington

Die Theorie des Samuel Huntington

Die Theorie von Samuel Huntington, die er erstmals in einem Artikel für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ im Jahr 1993 und später in seinem Buch „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“ (1996) ausführlich darlegte, ist eine der einflussreichsten Thesen in der Debatte über internationale Beziehungen und Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges. Huntington argumentierte, dass die Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr von ideologischen Konflikten zwischen dem Westen und dem Kommunismus geprägt sein würde, sondern von kulturellen und religiösen Konflikten zwischen verschiedenen Zivilisationen.

Nach Huntingtons Theorie gibt es neun Hauptzivilisationen, die die Welt in ihrer kulturellen und religiösen Identität prägen. Eine dieser Zivilisationen ist die islamische Zivilisation, die er als eine der bedeutsamsten und konfliktträchtigsten identifizierte. Er behauptete, dass die Grenzen zwischen diesen Zivilisationen die Hauptkonfliktlinien der Zukunft sein würden, und nannte sie „blutige Grenzen“. Huntington schrieb: „Konflikte entlang der Bruchlinien zwischen Zivilisationen sind unwahrscheinlicher, friedlicher und weniger intensiv, wenn die Zivilisationen homogen sind, wenn es Überschneidungen gibt, wenn die Menschen in der Bruchlinie sich gegenseitig kennen, wenn sie Handelsbeziehungen unterhalten und wenn sie im Rahmen von internationalen Organisationen zusammenarbeiten.“

Huntington argumentierte weiterhin, dass der Islam aufgrund seiner kulturellen und religiösen Unterschiede zum Westen eine der größten Herausforderungen darstelle und dass Konflikte entlang der Grenzen des Islam unausweichlich seien. In diesem Artikel wollen wir uns genauer mit dieser Behauptung auseinandersetzen und die historischen und aktuellen Ereignisse in den muslimisch geprägten Regionen der Welt untersuchen, um festzustellen, ob sie tatsächlich auf religiöse Unterschiede zurückzuführen sind.

Schlachtfelder im so genannten Krieg gegen den Terror, der eigentlich ein Krieg gegen islamistischen Terrorismus ist

Die Realität der blutigen Grenzen

Huntingtons These von den „blutigen Grenzen“ des Islam hat zweifellos seit 1993 in einigen Fällen eine gewisse Evidenz gefunden. Einige der bekanntesten Konflikte und Kriege in den letzten Jahrzehnten sind in muslimisch geprägten Regionen an den Grenzen ihrer Kultur aufgetreten und hatten dadurch häufig religiöse Komponenten. Zur grundsätzlichen negativen „Motivation“ von Islamisten, aber auch vielen „normalen“ Menschen im Nahen Osten, den Westen und Israel massiv abzulehnen, sagt Huntington 2002:

Viele Faktoren spielen mit. Einer ist das historische Gefühl unter Muslimen, vor allem unter Arabern, dass sie vom Westen unterjocht und ausgebeutet worden seien. Ein anderer ist Groll über konkrete westliche Politik, insbesondere der amerikanischen Unterstützung Israels. Ein dritter ist die „demografische Beule“ in der islamischen Welt. Die Altersgruppe 15 bis 30 ist dort die größte. Diese jungen Männer finden zu Hause keine Jobs. Sie versuchen nach Europa auszuweichen oder lassen sich für den Kampf gegen Nichtmuslime rekrutieren.

Samuel Huntington; Quelle: https://www.zeit.de/2002/37/Die_blutigen_Grenzen_des_Islam/komplettansicht

Der große Islamkenner Bernhard Lewis, der Huntington unter anderem zu seinen Thesen inspirierte, geht sogar noch weiter und sieht die blutigen Grenzen des Islam folgendermaßen begründet:

Als die „historische Reaktion eines alten zivilisatorischen Rivalen gegen unser jüdischchristliches Erbe, unsere säkulare Präsenz und die weltweite Ausbreitung von beidem“

Bernhard Lewis, zitiert nach https://www.zeit.de/2002/37/Die_blutigen_Grenzen_des_Islam/komplettansicht

Laut Huntington dauert der Konflikt „Westen versus Islam“ als historische Rivalität seit dem 7. Jahrhundert an, also seit den Angriffen von der arabischen Halbinsel auf das christliche oströmische Byzanz. Eine machtpolitische Rivalität, die im Nahen Osten vermutlich viele Menschen so sehen, die man im politisch 1968er-weichgespülten Europa hingegen längst verdrängt hat. In diesem Konflikt wehrt sich der muslimische Nahen Osten insbesondere gegen westliche Ideen wie den Individualismus, Liberalismus, Konstitutionalismus, Menschenrechte, Gleichheit von Gruppen und Geschlechtern sowie die Demokratie. Warum? Weil man sie als „fremde“ Konzepte betrachtet, die einem von außen aufoktroyiert wurden!

Die blutigen Grenzen im Inneren des Islamischen Kulturkreises

Der Islam ist keine monolithische Religion. Es gibt eine gewisse religiöse, wie kulturelle Vielfalt innerhalb der muslimischen Welt, sowohl in Bezug auf religiöse Praktiken als auch auf kulturelle Unterschiede, auch wenn sunnitische Fanatiker seit Jahrzehnten daran arbeiten, diese Vielfalt zu vernichten ! Der Islam teilt sich in verschiedene religiöse Strömungen, darunter den sunnitischen und schiitischen Islam, sowie zahlreiche Sekten und theologische Schulen. Diese Unterschiede führen in der Region regelmäßig zu Konflikten, wie etwa im Fall des 1300 Jahre andauernden schiitisch-sunnitischen Konflikts im Nahen Osten.

So mordeten sunnitische IS-Fanatiker in Syrien und im Irak alle Andersdenkenden, wobei vor allem Schiiten und religiöse Minderheiten besonders in ihrem Fokus waren. Im gegenwärtigen Israel Konflikt, werden zwar Hamas und Hisbollah vom schiitischen Iran finanziert, jedoch trennt, rein religiös betrachtet, die zwei Terrororganisationen so einiges. Gäbe es Israel nicht, würden die sunnitische Hamas und die schiitische Hisbollah wohl aufeinander losgehen, sowie es die Hisbollah in Syrien mit ihrem Krieg gegen den Islamischen Staat bereits demonstriert hat.

Darüber hinaus variieren natürlich die sozialen und politischen Umstände in muslimischen Ländern erheblich. Ein Land wie die Türkei, das offiziell säkular ist, unterscheidet sich stark von Saudi-Arabien, wo eine strenge Form des Islam Staatsreligion ist. In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land, wird der Islam in einer moderaten Form praktiziert und mit lokalen Traditionen vereint. Dazu darf man natürlich politische und wirtschaftliche Faktoren nicht außer Acht lassen. Viele Konflikte in muslimisch geprägten Regionen sind eng mit politischen Machtstrukturen, ökonomischen Ressourcen und sozialen Ungleichheiten verbunden. Die Religion wird aber gerne für alles Mögliche erfolgreich instrumentalisiert !

Fazit

Huntingtons Thesen aus dem Jahr 1993 haben sich 2023 einmal mehr bewahrheitet. Noch jeder eingefrorene Konflikt einer muslimischen mit einer christlichen/jüdischen Macht der 1990er ist wieder aufgetaut und wird im Namen der Religion spätestens 2023 erneut erbittert geführt. Seien es die jüngsten Konflikte in und um Israel, der Krieg gegen die Armenier, die instabile Lage im russischen Nordkaukasus, die Konflikte in Afrika et cetera. Auslöser war und ist fast immer ein muslimisches Land oder eine islamistische Terrororganisation. Mit einer prominenten Ausnahme: Das Chaos im Irak mit allen fürchterlichen Folgen, haben rein die USA verursacht.

Es waren dabei natürlich stets nicht nur religiöse, sondern oft auch geopolitische Interessenslagen, die bei den Konflikten eine wichtige Rolle spielten, aber das „kämpfende Fußvolk“ wurde oft mit einem islamischen Nationalismus in diese Bruchlinienkonflikte hineingeführt. Die Führer des Iran streben nach einem Konflikt mit dem Westen, ihre Fußtruppen der islamistischen Hamas-Terroristen morden aber dann im Namen des Islam.

Der Aufstieg von Terrorgruppen wie Al-Qaida, ISIS der Hamas und der Hisbollah haben zusätzlich zweifellos zu einer Zunahme der Gewalt und Konflikte im Namen des Islam geführt. Diese Gruppen haben stets extremistische Interpretationen des Islam propagiert und Gewalt als Mittel zur Verbreitung ihrer Ideologie eingesetzt. Dies äußert sich dann in Form der blutigen Grenzen des Islam etwa in Nigeria (Boko Haram – Übergriffe gegen Christen), im Gazastreifen, in der zentralafrikanischen Republik et cetera et cetera.

Die Theorie von Samuel Huntington über die „blutigen Grenzen“ des Islam hat also zweifellos essentiell zur Debatte über die Rolle von Religion und Kultur in internationalen Konflikten beigetragen und einen wichtigen Input geliefert. Religiöse Unterschiede sind ein Faktor in vielen aktuellen Konflikten und sie sind ein beständiges politisches Potential, das von Präsidenten, religiösen Führern und Terroristen nur zu gerne abgerufen wird, um Muslime in aller Welt gegen vermeintliche Feinde wie den Westen oder Israel zu mobilisieren !

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Vielen herzlichen Dank an alle Unterstützer !

Links und Quellen

https://www.zeit.de/2002/37/Die_blutigen_Grenzen_des_Islam/komplettansicht

Samuel Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert: