Proteste und bald Revolution? Was tun mit Weißrussland?

Proteste in Minsk

Weißrussland (oder Belarus) rebelliert nun schon seit vielen Wochen gegen seinen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der oft als der „letzte Diktator Europas“ bezeichnet wird. Nach 31 Jahren ununterbrochener autoritäter Führung hat das Volk genug vom Lukaschenko-Regime, dessen Überlebensstrategie es bisher war sowjetische Verhältnisse der 1980er Jahre in die 2020er Jahre zu retten. In Minsk galt Stabilität statt Mittbestimmung, KGB und Spezialpolizei statt Maidan und freier Meinungsäußerung. Man besucht viele Stalinmuseen und Leninstatuen werden immer noch verehrt, Militärparaden und sozialistischer Realismus prägen den Alltag. Das Ausland ist natürlich der Feind – besonders der Westen, aber auch ein klein wenig Russland (und das besonders wenn die wirtschaftliche Abhängigkeit gar zu groß wird). Nun aber demonstrieren bis zu 500.000 Menschen in Minsk (laut unabhängigen Medien) gegen die Regierung und fordern einen Wandel ein!

Gleich vorneweg: Den Bürger Weissrusslands ist eine friedliche Revolution und eine bessere demokratische Regierung auf jeden Fall zu wünschen ! Für uns als EU und den Westen insgesamt stellt sich aber wie bei der Ukraine 2014 die banale geopolitische Frage: Wer will sich eigentlich für Weißrussland einsetzen? Wer wird für Minsk „all in“ gehen? Russland auf jeden Fall, aber auch nicht um jeden Preis. Die EU ist ihrerseits an der Demokratisierung, aber geopolitisch viel mehr an Moskau als Partner interessiert. Die Osteuropäer im Baltikum und Polen sind emotional wohl engagiert und nicht an einer russischen Übernahme in Minsk interessiert, tun aber auch nicht wirklich viel. Bleibt wohl nur das weißrussische Volk, das wie in der Ukraine jetzt vielleicht zwischen den schwammigen Interessen zerieben wird. Wir vom März möchten deshalb einen genaueren Blick in dieses durchaus besondere Land werfen.

Das Lukaschenko-Regime

Sozialistischer Realismus 2.0 im 21. Jahrhundert: Der Kulturpalast in Minsk

Lukaschenko regiert das Land nun seit 26 Jahren und sein Land entwickelt sich langsam – wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Er und sein Regime stagnieren aber, weshalb er zuletzt mit dem massiven Gewalteinsatz gegen die Demonstranten immer mehr Sympathien verspielt. Es bleibt ihm daher in Minsk in erster Linie nur mehr die Loyalität der Geheimdienste, der Polizei- und Armee-Eliten. Diese sind die tragenden Säulen seines Regimes, das schon lange kontinuierlich Unterstützer verliert. Dazu kommen Teile der konservativen Landbevölkerung und devote Bürger ab 40 die noch die Sowjetunion erlebt haben. Diese lassen sich mit der Angst vor Instabilität und Verweisen auf die Ukraine an der Stange halten.

Der große Bruder Russland

Wenn sich Russlands Präsidenten Jelzin und Putin in einem Thema in dieser Frage einig waren, dann in diesem: Weißrusslands Grenzen zu Russland exisiteren nicht (wirklich). Schon Präsident Jelzin hatte mit Lukaschenko einen russisch-weissrussischen Unionsvertrag unterzeichnet. Die Erwartung das beide Staaten in einem Bundesstaat aufgehen würden, erfüllte sich bis heute aber nicht. Aus den 1990er Jahren gibt es sogar Gerüchte, das einst Lukaschenko eine staatliche Einheit beider Länder nach Jelzin versprochen hatte – freilich für den Fall das er selbst im Kreml würde einziehen können. Seit 1997 exisitert ein Unionsvertrag der beiden Länder, welcher eine schrittweise Integration mit gemeinsamen Parlament, Gerichtshof, Währung und einem Präsidenten vorsieht. In der Praxis umgesetzt wurde davon kaum etwas. Eines der Dinge die heute gelten ist eine weißrussisch-russisches „Schengengebiet“, in dem beide Länder keine Grenzkontrollen untereinander haben. Und Weißrussland ist Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion, wie folgende Karte zeigt.

„Russlands EU“: Die Eurasische Wirtschaftsunion (grün Mitglieder, blau Beitrittskandidaten)

Lukaschenko hatte in der Folge dann aber wenig Lust neben den wirtschaftlichen Zugeständnissen auch politisch eine zweite russische (Provinz-)Geige zu spielen. Stattdessen begnügte er sich mit seinen 10 Millionen Einwohnern und betonte die weißrussische Identität und Eigenständigkeit, auch wenn er immer wieder mit Druck aus Moskau konfrontiert wurde. Auch die Annexion der Krim erkannte Lukaschenko wohl im eigenen Interesse nicht an. Denn gleichzeitig bezeichnet er den Zerfall der Sowjetunion als eine Katastrophe.

Aktuelle Entwicklungen

Für die aktuellen starken Proteste gegen Lukaschenko gibt es mehrere Gründe: Missmanagement, die andauernde Wirtschaftskrise, sowie die zu offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9.August 2020. Lukaschenko bekam hier nach offiziellen Angaben 80,23 Prozent der Stimmen. Ein völlig unrealistisches Ergebnis. Die Kandidatin der Opposition Swetlana Tichanowskaja erreichte dagegen nur 9,9 Prozent. Sämtliche (freie) Ergebnisse aus weißrussischen Botschaften in Europa und Russland deuten allerdings auf ein genau eher umgekehrtes Stimmenverhältnis hin. Der Unmut der Bevölkerung ist also mehr als berechtigt. In fairen Wahlen hätte es mindestens eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten gegeben.

Vor den Wahlen versuchte Lukaschenko dann sogar noch eine antirussische Stimmung für seine Wiederwahl zu erzeugen, indem er russische Söldner festnehmen ließ, denen er einen Putschversuch unterstellte. Die aber ziemlich wahrscheinlich nur auf der Durchreise in Weißrussland am Weg nach Afrika waren. All das half gegen die Opposition aber nicht viel, weshalb das Regime schon bald auf brutale Polizeigewalt setzte.

Lukaschenkos Flagge von Weißrussland (seit 1995); die Opposition benutzt weiß-rot-weiß (die Flagge der Unabhängigkeit 1991-1995)

Gerüchte über russische Involvierung

Ein spannendes Gerücht aus jüngster Zeit mit angeblich etlichen Indizen ist, dass Präsident Putin letzten Winter ziemlichen Druck auf Lukschenko ausgeübt haben soll. Ziel war das Projekt eines gemeinsamen Bundesstaates endlich zu verwirklichen. Die politische Motivation Putins (abgesehen vom russischen geopolitischen Interesse): Er hätte das Präsidium dieses neu auszurufenden bilateralen Staates neu übernehmen können. Und das ohne die Mühen 2020 die russische Verfassung zu ändern, eine fragwürdige Volksabstimmung zu frisieren und seine Amtszeiten auf „Null“ setzen zu müssen, sodass er 12 weitere Jahre ab 2024 an der Macht bleiben kann. „Win-Win“ also für den Kreml-Herren. Aber soweit kam es bekanntlich nicht. Lukaschenko sperrte sich, auch wenn Russland die russische Erdöl- und Gaslieferungen empfindlich gekürzt hatte. Weißrussland bezahlte dafür nun wirtschaftlich hart: lebt es doch von billiger russischer Energie und dem Weiterverkauf veredelter Rohölprodukte.

Ein weiteres Gerücht zu Wahlen besagt, dass der auffällig effiziente und teure Wahlkampf der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja indirekt vom Kreml finanziert wurde. Ziel wäre gewesen neben dem wirtschaftlichen auch innenpolitischen Druck auf Lukaschenko auszuüben. Und das hat definitiv funktioniert – Lukaschenko musste ziemlich rasch um Russlands Hilfe bitten. Und die hat natürlich einen Preis. Gegen diese Vorgangsweise sprechen aber die schmerzhaften russischen Erfahrungen in der Ukraine, als man durch die Maidan-Revolution das Land politisch größtenteils an den Westen verlor (die Krim und die Ostukraine freilich ausgenommen).

Russland und Weißrussland

Russland möchte das Land am liebsten mit sich vereinigen, doch scheint auch Putin momentan politisch eher vorsichtig zu sein. Auch im Kreml ist man sich der eigenen Macht wohl nicht allzu sicher, denn sonst hätte man wohl darauf verzichtet der eigenen Opposition mit der Vergiftung Nawalnys eine derart brutale Botschaft auszurichten. Für die Russland auch politisch einen Preis wird zahlen müssen. Eine Machtübernahme Russlands würde außerdem eine Beerbung des Lukaschenkoregimes und wahrscheinlich des Unmuts der Bevölkerung gegen dieses bedeuten. Das kann Putins Russland momentan wirklich nicht brauchen. Ein schwacher Lukaschenko der sein Land wirtschaftlich und politisch immer weiter Russland ausliefert ist da wohl die bessere Option. Oder noch besser: Ein politisch verlässlicher Nachfolger der Wechsel verkörpert, aber geopolitisch alles beim Alten belässt. Für den Fall, das sich die Proteste in Weißrussland jedoch radikalisieren würden, droht Putin russische Spezialkräfte ins Nachbarland zu entsenden.

Wirtschaftlich betrachtet ist das Durchschnittseinkommen in Belarus nach Angaben der Weltbank rund doppelt so hoch wie in der Ukraine und etwa ein Drittel geringer als in Russland. Russlands Energiebranche bezuschusst das Nachbarland seit Jahrzehnten massiv: So konnte das Land zu russischen Inlandspreise relativ billig Öl und Gas kaufen. Mit der Weiterverarbeitung und dem Export verdiente das Land dann alleine 2018 rund sieben Milliarden Euro. Das ist angeblich auch einigen wirtschaftsliberalen Putin-Beratern eigentlich ein Dorn im Auge. Energiepreise sorgen zwischen den Ländern für Streit. Vor allem wenn die russischen Eliten politisch nicht das bekommen, was man sich von Lukaschenko erwartet. Außerdem schneidet Lukaschenko an europäischen Warenexporten nach Russland mit, die er nach Russland reexportiert weil ein direkter Export nach Russland durch russische Gegensanktionen nach der Krim-Annexion nicht möglich ist.

Belarus in Europe.svg
Weißrusslands Lage zwischen Russland, der EU und der Ukraine im Herzen Osteuropas

Die Europäer und Weißrussland

Bleiben nun die Europäer, bzw. die EU und im Hintergrund die USA: Was wollen wir eigentlich? Das Land ist heute der EU-Initiative „Östliche Partnerschaft“ und hatte zuletzt seine Beziehungen zur Europäischen Union vorsichtig ausgebaut. Lukaschenko wurde im Rahmen dessen sogar in Wien von der österreichischen Regierung empfangen, blieb aber in Europa eine Persona-non grata. Für die Balten und Polen wäre eine russisch-weißrussische Einheit wohl ein Grund zur Besorgnis. Russland rückt dann noch näher an die eigenen Grenzen heran. Ein NATO- und EU-Beitritt von Weißrussland sind aber durch die engen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen mit Russland mittelfristig ausgeschlossen. Von den Menschenrechtsverletzungen, der bankrotten Wirtschaft und der Diktatur einmal ganz abgesehen.

Ebensowenig macht eine finanzielle Unterstützung Sinn, wenn das Land ohnehin von Russland absolut abhängig ist und zusätzlich die Opposition mit den Füßen getreten wird. Diplomatische Boykotte wurden in der Vergangenheit schon probiert – und befreiten zumindest damals politische Gefangene. Ein Anschluss an Russland ist aber sicher auch nicht im Interesse der EU. Weißrussischer Nationalismus (und Eigenständigkeit) und Pro-EU Gefühle passen hier sicher ebenso zusammen wie es in der Ukraine der Fall war. Die EU gewinnt also mit einem unabhängigen Weißrussland auf jeden Fall langfristig auf Kosten Russlands an Einfluss.

Kurzfristig hat man sich in Brüssel geeinigt das Wahlergebnis nicht anzuerkennen und Sanktionen gegen Eliten des Lukaschenko-Regimes zu verhängen. Der Weg nach Westen für den Despoten wird zunehmend verschlossen, sein Land soll aber auf Kurs bleiben. Europäische Politiker halten engen Kontakt mit Putin und signalisieren ihre Idee, dass Russland doch stabilisierend wirken sollte. Die Entwicklungen in der Ukraine haben die EU wohl vorsichtiger gemacht.

Fazit

Die EU profitiert von einem eigenständigen Weißrussland, wenn es sich reformiert und öffnet. Russland sucht nach Wegen das Land ganz für sich zu vereinnahmen. Die Bürger Weißrusslands wollen wohl beides – wie stark kann man aktuell nur schwer abschätzen. Lukaschenkos Regime steht auf jeden Fall an der Wand und ist durch diese Krise noch abhängiger von Russland geworden. Am Kreml führt also politisch kein Weg vorbei. Und der Kreml lernt bekanntermaßen alle „Farbrevolutionen“ wie in der Ukraine (2004), Georgien (2003), Kirgistan (2005) entschieden als Einmischung „von außen“ ab.

Fest steht auch, dass der Westen keine „sowjetische“ Diktatur finanziell oder wirtschaftlich besonders unterstützen wird die das eigene Volk unterdrückt. Das würde den eigenen Werten und jeder politischer Sinnhaftigkeit widersprechen. Diese Rolle wird man weiter Russland überlassen, während man sich auf politischen Druck verständigt, um das Land so etwas mehr zu demokratisieren. Das kann nur im Interesse der Europäer sein, denn mit wirtschaftlicher Prosperität und nationalen Gefühlen schwindet die hohe Abhängigkeit vom großen Bruder Russland. Und dazu kommt durchaus eine Angst der EU Lukaschenko zu sehr in die Arme Moskaus zu treiben.

Es wird also am Ende außenpolitisch wohl nicht viel passieren – ob sich Lukaschenko nun im Amt halten kann oder auch nicht. Der Status-quo wird in Moskau festgeschrieben: Mit oder ohne Lukaschenko. Der Despot muss am Ende nur von seinem Volk Angst haben.

Links und Quellen

Dr. Alexander Dubowy: Wahlen in Belarus: Lukaschenkos Glück und Ende. In: „Die Presse“ vom 21.08.2020: S. 23

Christian Esch: Everybody´s Despot. In: „Der Spiegel“ vom 14.08.2020: S. 85

Slawomir Sierakowski: Die Risse im belarussischen Regime werden mehr. In „Die Presse“ vom 24.08.2020: S: 18f.

https://www.journal21.ch/lukaschenko-und-putin-brueder-im-geiste

https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/alexander-lukaschenko-weissrussland-100.html

https://www.welt.de/politik/ausland/article214723374/Weissrussland-Egal-wie-es-weitergeht-Putin-hat-gewonnen.html

ABC News